Werfen Sie einen ersten Blick auf die Geschichte von Ide. - Leseprobe 1. Kapitel
Der Winter wollte in diesem Jahr nicht enden. Seit Wochen zeigte jeder Tag ein anderes Grau. Stürme jagten tief hängende Wolken über das Meer. Manchmal hielten sie für ein paar Stunden inne, nur um dann mit neuer Kraft die See aufzuwühlen und die bleiernen Wogen gegen die Felsen vor der Küste zu schmettern. Dazu trommelte ununterbrochen Regen auf die krummen Wacholderbäume in den Dünen und die schiefen Lehmhütten dazwischen. Er führte den feinen Sand aus der Wüste mit sich und hinterließ überall eine braune Schicht, die sich in jeder Ritze und jedem Gewebe festsetzte.
Unbeeindruckt vom Tosen der Brecher stand eine Frau am Ufer. Obwohl die gerundeten Schultern und der breite Stand verrieten, dass sie schon viele Jahre gesehen hatte, haftete ihrem Gestus, der Art, wie sie dann Kinn erhoben trug, etwas Herrschaftliches an. Ihre bloßen Füße blieben gerade außerhalb des Schaumteppichs, den die Wellen auf den Strand rollten. Jeden Morgen kam sie hierher und starrte hinaus zu dem Schiff, das hinter der zerklüfteten Felsbarriere in der aufgepeitschten See krängte. Gegen die feuchte Kälte wickelte sie sich in eine gemusterte Decke in Rot, Orange und Violett. Die grauen, noch kräftigen Haare bändigte ein buntes Tuch. Vor der Kulisse aus Grautönen wirkte sie wie ein Versprechen, dass auch dieser Winter endete, Meer und Himmel zu ihrem Blau und Türkis zurückfanden und der rosafarbene Muschelsand die Wärme der Sonne speicherte.
Der Regen tropfte durch das Dach aus Zweigen, unter dem Kapetan Makar saß und die Frau beobachtete. Erste weiße Fäden zogen sich durch sein Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel. Sein sehniger Körper verriet die harte Arbeit, an die er gewohnt war, obwohl er sich jetzt schlaff von all der Langeweile fühlte. Gedankenverloren ließ er den Feigenschnaps im Becher kreisen. Es war viel zu früh dafür. Allerdings ließ ihn das warme Brennen in seinem Bauch die Wochen ertragen, die er in diesem Nest mit seinen schlammigen Wegen und verrußten Hütten festsaß.
Anfangs, nachdem der Sturm sein Schiff beschädigt und ihm ein Drittel seiner Männer genommen hatte, war noch genug zu tun. Gegen die Reste der Ladung, die das Unwetter übrig gelassen hatte, tauschte er Holz ein, um den Rumpf zu reparieren. Rasch ließen sich Männer anheuern, die die Aussicht auf Abenteuer und fremde Länder lockte. Seitdem verlief jeder Tag gleich: Sturm. Regen. Kalte Feuchtigkeit, die in seine Knochen kroch. Und dieser Sand. Mit der Zunge fuhr er sich über die Zähne, das raue Gefühl in seinem Mund blieb.
Er war in einem Alter, in dem morgens die Gelenke steif waren, und so vermisste er die dicken Mauern und warmen Feuer seiner Heimat. Nur das Wetter musste noch mitspielen, damit er in See stechen und diesen trostlosen Ort hinter sich lassen konnte. Er nahm einen Schluck, um den staubigen Geschmack hinunterzuspülen.
»Darf ich mich zu dir setzen?«
Makar stellte den Becher weg. Vor seinem Tisch stand die Frau in der bunten Decke.
»Nur zu.« Er wies auf den Platz gegenüber und betrachtete sie genauer.
Die Falten, die das Alter in ihr Gesicht gegraben hatten, verrieten ein hartes, doch auch freudiges Leben. Sie war älter, als er gedacht hatte. So alt wie seine Mutter vielleicht, wenn sie noch am Leben wäre. Umständlich ließ sie sich auf dem Kissen nieder und nahm die Hände zu Hilfe, um die Beine unterzuschlagen. Dabei rutschte die bunte Decke über ihre Schultern und gab den Blick auf eine auffallende Kette frei, an der drei Achatkugeln baumelten.
»Wie üblich?«, fragte der Bärtige, dem das Haus gehörte und der Reisenden hier einen dünnen Sud aus Salbeiblättern, Schnaps und, wenn man Glück hatte, auch etwas zu essen anbot.
Ein Funkeln trat in ihre Augen. »Ich nehme das Gleiche wie er.« Ihre Stimme klang kratzig und das lag nicht allein an der kehligen Sprache, in der sie hier redeten.
Bis der Schnaps kam, schwieg sie. Makar fragte sich, warum sie sich zu ihm gesetzt hatte. In all den Wochen, in denen er jeden Tag unter diesem Dach verbracht hatte, kam sie das erste Mal zu ihm. Er hatte gesehen, wie sie am Ufer stand und zu seinem Schiff hinausstarrte. Irgendwann begann sie, ihn mit einem Nicken zu grüßen.
Als der Schnaps vor ihr stand, hob sie den Becher und prostete ihm zu. Ihm fiel die dünne, helle Linie an ihrem Unterarm auf. Eine alte Narbe.
»Der Regen endet morgen«, sagte sie zu seiner Überraschung in seiner Sprache. Ihre Betonung wirkte ungelenk, als hätte sie diese Worte schon lange nicht mehr benutzt. »Dann wirst du nach Kreta segeln.«
»Du bist gut unterrichtet.«
»Nimm mich mit.« Sie sagte es geradeheraus, ließ keinen Zweifel, dass sie es ernst meinte.
Makar lachte auf. »Warum sollte ich das tun? Du bist eine alte Frau. Ich bezweifle, dass du die Reise überstehst.«
»Es soll nicht dein Schaden sein. Hier.« Sie nahm die Kette ab, schob sie in die Mitte des Tisches.
Makar ließ sie liegen.
»Sie bedeutet mir viel. Mehr bedeutet mir, ein letztes Mal nach Kreta zu kommen.«
Er horchte auf. »Du warst bereits auf der Insel?«
»Ich will dort sterben.«
»Was sagst du da?«
»Lass mich dir meine Geschichte erzählen.«
Der Regen sang auf dem Blätterdach. Die See brandete hart auf die Klippen. Heute geschah nichts Besonderes mehr. Warum also nicht?
Sie nahm noch einen Schluck, als wollte sie sich Mut antrinken. Die Augen auf den Horizont geheftet, begann sie:
»Jedes Mal, wenn ich an Kreta denke, schlägt mein Herz schneller und eine Sehnsucht dringt in die Fasern meines Körpers. Dann gehe ich zum Strand hinunter, laufe durch den Sand, der sich zwischen meine Zehen presst, bis das Meer an den Füßen zieht, und ich schaue nach Norden. Dort liegt sie, meine Insel, meine Heimat. Wie viele Jahre ist es her, dass ich über die rote Erde schritt, der Duft von Zedern und Lorbeer mich umfing? Ich weiß es nicht genau. Die Tage hier ziehen dahin wie die Wellen. Das Land in meinem Rücken erstreckt sich ausgedörrt bis zum Horizont. Das ganze Jahr über weht einem der Wind den Staub ins Gesicht, der sich in den Augenwinkeln absetzt und in die Ohren kriecht. Wie vermisse ich die Olivenhaine mit silbrig schimmernden Blättern, die schroffen Gipfel, deren Spitzen weit ins Jahr hinein der Schnee bedeckt, und die sprudelnden Bäche in den Eichenwäldern. Ich erinnere mich an unsere Stadt auf dem Hügel: gepflasterte Wege, marmorverkleidete Wände, auf denen gemalte Szenen von Frohsinn und Schönheit künden. Das Meer liegt wie ein glänzender Spiegel zur Linken, zur Rechten erhebt sich das Gebirge, dessen Namen ich trage. Dazwischen erstreckt sich fruchtbares, grünes Land, ein üppiger Garten, der den Menschen seinen Reichtum schenkte. Meer und Berge sind immer noch da und werden die Ewigkeit überdauern, doch mein Kreta gibt es nicht mehr. Phaistos ist untergegangen. Hier an diesen fremden Gestaden erzähle ich seine Geschichte, damit sich jemand erinnert, wenn ich es nicht mehr kann.«
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